„Nostalgie ist der Rost am Kruppstahl unseres Gedächtnisses.“ Was der erst west-, dann ost-und schließlich wieder westdeutsche Schriftsteller Joachim Seyppel damit meinte, sind unsere guten alten Erinnerungen. Ja, früher! Da waren Weihnachtsbäume traditionell naturgewachsen, kamen aus dem Wald oder der Gärtnerei. Viel später fanden dann auch deren kunststoffliche Nachbildungen ihre meist eher praktisch veranlagten Befürworter. Das war und ist nach wie vor eine reine Geschmackssache. Was sich bis vor kurzem aber kein Mensch vorstellen konnte, das sind Tannen, die aus Beton gegossen wurden.
Selbstverständlich sind solche massiven Gebilde nicht für den Hausgebrauch gedacht. In Bautzen schützten sie in diesem Jahr erstmals den weihnachtlichen Wenzelsmarkt. Normalerweise wäre das keines großen Aufsehens wert. Doch was ist in Bautzen schon normal? In anderen Städten wurden kompakte Betonteile herangekarrt oder einfach Blumenkübel zu Barrieren umfunktioniert. Selbst an deren Hässlichkeit nahm dort kaum jemand Anstoß. Ob es was bringt, wurde auch nicht hinterfragt. Zumindest wurde keine öffentliche Diskussion darüber vom Zaun gebrochen.
Doch genau das haben aber wieder jene Bautzener Stadträte geschafft, die sich stets dann besonders besorgt zeigen, wenn das Unternehmen Hentschke Bau ins Spiel kommt. Dieses hatte nämlich die Camouflage-Poller für den Kornmarkt kostenlos zur Verfügung gestellt. Aber was hilft eine gute Tat gegen eine chronische Drews-Phobie. Der Mann kann es ihnen einfach nicht recht machen. Vielleicht sehen sie ja in den Beton-Tannen so etwas wie ein Trojanisches Pferd, in dem sich Reichsbürger verbergen. Undenkbar, dass es in Bautzen für eine doch recht originelle Gestaltungsidee solchen Beifall gibt, wie in Ulm und um Ulm und um Ulm herum für die Spatzen-Figuren aus Beton, die dort ein einheimischer Künstler für den diesjährigen Weihnachtsmarkt zu Fuße des imposanten Münsters entworfen hatte.
Also Schnee drüber? Nun, drücken wir mal diese Bautzener Provinzposse nicht einfach in die Tonne für schwachsinnigen Abfall, sondern fragen: War diese den festlich belebten Kornmarkt zur Hauptstraße hin abgrenzende Aufstellung der Beton-Tannen tatsächlich nur „überflüssiger Aktionismus“? Gab es wirklich gar keinen begründeten Bedarf an einem zusätzlichen Mehr an Schutz für die Marktbesucher? Der ARD-Terrorexperten Michael Götschenberg wurde vom MDR zu diesem Thema befragt. Seiner Meinung nach gibt es keine absolute Sicherheit im öffentlichen Raum. „Aber der Staat kann aus diesem Grund auch nicht sagen, er verzichtet auf Schutzmaßnahmen, denn dann würde man ihm Fahrlässigkeit vorwerfen.“ Käme es tatsächlich zu einem Anschlag, würden alle sagen: „Habt ihr denn gar nichts gelernt?“ Und so war zwar das Thema Terrorgefahr bisher nicht im Bautzener Sicherheitskonzept enthalten, doch man habe laut Stadtsprecher André Wucht auf „die latente Sicherheitslage in Europa“ reagiert.
Denn ganz abgesehen davon, dass es ein Zuviel an Sicherheit kaum geben kann, zumal bei Maßnahmen, die keinen Menschen stören, ist das mit dem Lernen so eine Sache. Noch immer befasst sich ein Untersuchungsausschuss mit dem islamistischen Terroranschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt, bei dem zwölf Menschen starben und mehr als 70 verletzt wurden. Ein gewisser Anis Amri war mit einem gestohlenen Lkw gezielt in die Menschenmenge gefahren. Erst unlängst, also zwei Jahre danach (!), zitiert WELT online ein Ausschussmitglied von den Grünen mit den Worten: „Die Einzeltäter-These ist jetzt noch weniger haltbar als zuvor.“
Mit dieser ernüchternden Aussage vor Augen gewinnen folgende Informationen vom Sommer dieses Jahres eine viel größere Bedeutung: „Nach einer aktuellen Erhebung der Sicherheitsbehörden (gemeint sind Polizei und Verfassungsschutz) konnten rund 2200 Personen mit Deutschlandbezug ausgemacht werden, die dem islamistisch-terroristischen Spektrum angehören.“ So meldete es die „Berliner Morgenpost“. Und weiter hieß es dort: „Ende Mai rechneten die Behörden noch rund 1900 Männer und Frauen dem ‚islamistisch-terroristischen Personal‘ zu. Ein Jahr zuvor waren etwa 1700 Menschen in diese Kategorie eingeordnet worden.“ Die Schlagzeile dieses Artikels der hauptstädtischen „Mopo“ bringt es auf den Punkt: „Zahl islamistischer Gefährder steigt“
Ob zu diesen aktenkundigen „Gefährdern“ auch der Tunesier Sief Allah H. gehörte? Ihn verhafteten SEK-Beamte Mitte Juni in Köln. Er soll an einem Sprengsatz mit hochgiftigen Substanzen gearbeitet haben. Laut Verfassungsschutz sei dadurch „sehr wahrscheinlich“ ein Terroranschlag verhindert worden, meldete damals SPIEGEL online. Im Oktober gab es dann Berichte in verschiedenen Medien, die Sicherheitsbehörden hätten einen Anschlagsplan des IS (Islamischer Staat) aufgedeckt und verhindert. Der NDR ließ sich das von Generalbundesanwalt Peter Frank bestätigen: „Für uns war die Faktenlage in diesem Fall sehr konkret und auch belastbar.“
Man sollte also meinen, dass es hierzulande durchaus ein gewisses Maß an „Unsicherheiten“ gibt. Und in einer ruhigen Stunde kann ein jeder für sich darüber nachdenken, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass wir unsere Weihnachtsmärkte schützen müssen. Selbst wenn wir den nostalgischen Rost von unseren Erinnerungen abklopfen – das gab es früher nicht. So mancher ist ja gut darin, das zu verdrängen, was nicht ins selbstgemalte Weltbild passt. Doch kaum einer, der ehrlich zu sich ist, entkommt seinen Gefühlen. Oder um hier die Schriftstellerin Christa Wolf zu zitieren: „Das Gefühlsgedächtnis ist das dauerhafteste und zuverlässigste. Warum ist das so? Wird es besonders dringlich gebraucht zum Überleben?“
Hans-Georg Prause