Ist dieses politische Festhalten an einer Bedrohung für unser aller Leben und Gesundheit durch eine Corona-Pandemie schon pathologisch, also letztlich krankhaft? Denn die Voraussetzungen dafür sind kaum noch gegeben. Aber „niemand ist sich seiner Prämissen so sicher wie ein Mann (es sei ergänzt: oder eine Frau, eine Regierung), der zu wenig weiß“. Um zu diesem Fazit zu gelangen, hatte Barbara Tuchman „Die Torheiten der Regierenden“ – Von Troja bis Vietnam (erschienen 1984) untersucht. Seitdem ist das alles eher noch schlimmer geworden.
Um ein gutes schlechtes Beispiel zu finden, muss man gar nicht am großen Weltenrad drehen. Bleiben wir im Lande. Die FDP wollte von der Bundesregierung wissen, welche von den getroffenen Maßnahmen gegen Corona, also z.B. Abstand, Maske und Lockdown, in welchem Umfang wirksam waren. Die verklausulierte Antwort aus dem Gesundheitsministerium ließ sich auf den schlichten Nenner bringen: Nichts Genaues weiß man nicht.
Einen „teuren Blindflug“ nannte es laut WELT online Wieland Schinnenburg, der Gesundheitsexperte der Liberalen, und zitierte dessen Statement gegenüber BILD: „Die Bundesregierung kann für keine der ergriffenen Maßnahmen angeben, ob diese wirksam sind.“ Oder anders gesagt: Die Fragwürdigkeit der Antworten ist offensichtlich.
Nur ändern wird sich daran wenig bis nichts. Wissen Sie, was „kognitive Dissonanz“ ist? Das ist einer dieser Begriffe, die nachzuschlagen sich lohnt. Man muss dafür gar nicht tief in die Sozialpsychologie eintauchen. Die Übersetzung in Eigensinn und Trotzigkeit tun es bereits. Wer denkt da nicht sofort an die Corona-Politik der Berliner Regierung und einiger ihrer Satrapen in den Bundesländern.
Solch ein Verhalten gehört zu den bereits erwähnten „Torheiten der Regierenden“. Die US-amerikanische Historikerin beschreibt das (hier verkürzt) so: Wenn feste Überzeugungen durch objektive Tatsachen widerlegt werden, führt das nicht zur Änderung der bisherigen Einstellung, sondern zu deren Erstarrung, verbunden mit dem Versuch, alle Gegenbeweise wegzuerklären.
Jüngstes Beispiel ist die Frage, ob Kinder und Jugendliche gegen Corona geimpft werden sollen. Die Politiker plädieren vehement dafür; sei es auch nur, um eine höhere Impfbereitschaft zu simulieren. Bund und Länder haben sich jetzt dafür entschieden. „Damit setzen sie sich über den langjährigen Goldstandard der Impfexpertise, die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko), hinweg“ („Handelsblatt“, Corona Spezial vom 3. August). Stattdessen wolle man sogar „bei der Impfung von Jugendlichen Tempo machen“ .
Da hilft es wenig, dass die Experten konsequent bleiben: „Der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens betonte im NDR, das Gremium werde an seiner Haltung nichts ändern, solange es noch zu wenige Daten über mögliche Folgeschäden einer Impfung von Jugendlichen gebe.“ Für einen gewissen Karl Lauterbach eine „Außenseiterposition“ (WELT online, 2. August): „Wesentliche Studien hätten ergeben, dass eine Durchseuchung mit der Delta-Variante viel gefährlicher sei als die Impfung von Kindern.“ Das erzählte er im Deutschlandfunk. Warum spricht er darüber nicht mit der Stiko?
Bei der Gelegenheit könnte sich Lauterbach gleich noch mit den Hausärzten unterhalten, auch solchen „Außenseitern“. Weshalb eine Empfehlung der Stiko zu dieser Frage auf der Basis fundierter Studien nicht abgewartet werden könne, sei ihm „schleierhaft“, sagte der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Das Ganze klingt ein wenig nach Wahlkampfgetöse.“
Eigentlich ist es mehr Krampf als Kampf, was die Bundesregierung seit Monaten (andere werden sagen: seit Jahren) veranstaltet. Aber das bleibt nicht aus, wenn zur Unfähigkeit noch Selbstgefälligkeit hinzukommt. Wie sonst ist zu erklären, dass kritische Meinungen mit Hilfe willfähriger Medien diskreditiert und Menschen, die ihr Recht wahrnehmen, auf der Straße öffentlich zu protestieren, attackiert werden.
Letzteres ist erst wieder am Sonntag in Berlin bei Veranstaltungen der sogenannten Querdenker geschehenen. Hätte man nicht mehrere tausend Demonstranten trotz Gerichtsverbot einfach friedlich gewähren lassen können? Am Wochenende zuvor waren es Zehntausende, die dort ungestört den Christopher Street Day feiern durften. Die Argumentation mit den Verstößen gegen eine ominöse Corona-Schutzverordnung war nicht nur dünn, sie war zu durchsichtig.
Doch „für Großmut braucht es große Geister“, um noch einmal Barbara Tuchman zu zitieren. Wer aber in Berlin der Sagen hat, ist eher von allen guten Geistern verlassen. Und so kamen unzählige Polizisten zum Einsatz, um 5000 Leute in die Schranken zu weisen. Es gab fast 1000 Festnahmen ; bei diesen Proportionen muss sich ein schiefes Bild ergeben. Das ließ sich auch nicht von den dick auftragenden Berichten in den Medien übertünchen. Diese hatten sowieso in einem am Rande der Demo angegriffenen Gewerkschafter ihren Helden schnell gefunden. Er konnte übrigens noch am Sonntag das Krankenhaus wieder verlassen.
Tragischer war, dass in den Reihen der Querdenker ein 49-jähriger Mann ums Leben kam. Die Aufregung war groß, die Empörung noch größer. Er hatte sich das alles zu sehr zu Herzen genommen. Wohl ein Infarkt, der ihn ereilte, als er bei der Feststellung seiner Identität kollabierte. So war es jedenfalls am Montag bei WELT online zu lesen. Später wurde dort präzisiert (während sich andere Medien in Schweigen hüllten):
„Der Pressemitteilung zufolge soll der Mann eine Polizeikette durchbrochen und dabei einen Beamten umgerissen und verletzt haben. Nachdem die Einsatzkräfte versucht hätten, ihn festzunehmen, sei er geflüchtet. Nach einer kurzen Verfolgung sei er zu Boden gebracht und gefesselt worden.“ Wie der „Spiegel“ berichtet, wurden laut dem vorläufigen Obduktionsergebnis nur Verletzungen festgestellt, die auf die Reanimationsversuche zurückgingen.
Der Verstorbene hatte mit einem jugendlichen Sohn an den Protesten teilgenommen. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) hat nun Eltern kritisiert, die ihre Kinder zu Querdenker-Protesten wie am Wochenende in Berlin mitnehmen. Damit ist „die Schuldfrage“ wohl geklärt. Kein Gedanke daran, dass sich die Polizei ihrerseits auf das eher bürgerliche Klientel solcher Demonstrationen einstellt. Um das zu veranschaulichen: Können sich Beamte in voller Kampfmontur wirklich nicht eines erregten älteren Herren, der mit einem Schirm herumfuchtelt, erwehren?
Nein, natürlich war das für die Einsatzkräfte bestimmt kein Sonntagsspaziergang. Aber es waren eben auch keine „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ wie in der Nacht zuvor im Berliner James-Simon-Park, wo es die Polizei mit 2500 jungen Leuten zu tun bekam, aus deren Reihen sie mit Steinen und Flaschen beworfen wurde. Es wurden dabei 19 Beamte verletzt, einer schwer. Es gab (nur) zwölf vorübergehende Festnahmen. Hier stellt sich doch einfach die Frage nach der Verhältnismäßigkeit.
Ach ja, und die große Politik? Die sitzt das alles aus, verschanzt sich im Kanzleramt und in den Parteizentralen. Ihre Kritiker hat sie längst in den pro-forma-Wahlkampf eingepreist. Sie sind kein Posten in der Rechnung, welche die Parteien aufmachen. Unter dem Strich gewinnen (fast) alle. Kein Gedanke daran, sich der Kritik zu stellen. Da könnten ja ihre Versäumnisse, könnte ihr Versagen aufgerechnet werden.
Manch einer nennt das Feigheit. Feigheit vor dem Volk!
Hans-Georg Prause