Beginnen wir auch diese Kolumne mit einem Facebook-Fundstück. So wie zuletzt bei „Kein Konsens für den Nonsens“. Ja, auch der Volksmund chattet oder postet. Internet und Social Media haben längst Kaffeeklatschkränzchen und Stammtischrunde verdrängt. Dazu brauchte es nicht einmal Corona. Diese Pandemie wird allerdings zunehmen dafür genutzt, soziale Kontakte möglichst nicht nur zu unterbinden, sondern sie sogar zu etwas Anrüchigem zu erklären.
Doch „einem Menschen wird man auf dem Weg zum Bäcker begegnen, aber niemals im Internet“. Genauso ist es. Deshalb wird hier auch sogar ein BILD-Kolumnist wie Franz-Josef Wagner zitiert. Zumal dieser, dem einst der Beiname „Gossen-Goethe“ verliehen wurde, ganz bestimmt näher dran ist am Alltag, als es die Nomenklatura der Berliner Politik jemals war.
Womit der Anschluss zum ersten Satz dieses Textes gefunden ist. In einem Post über die Bundeskanzlerin war Folgendes zu lesen: „Merkel hat zwei wichtige Sätze gesagt: ‚Wir schaffen das!‘ im Jahr 2015 und ‚Bitte bleiben Sie zu Hause!‘ im Jahr 2020. Aber eben leider in der verkehrten Reihenfolge …“
Das ist bitterböse gedacht und gesagt, bestens geeignet für einen kurzen sarkastischen Nachruf. Nur leben eben auch politisch Totgesagte manchmal länger, als zu vermuten war. Und was macht alte Leute so gefährlich? Genau, sie haben nichts mehr zu verlieren.
Deshalb setzt Angela Merkel auch kaum noch was aufs Spiel, wenn sie jetzt über das Land eine Art medizinisches Kriegsrecht verhängen lässt. Selbstverständlich heißt es nicht so, sondern wird als eine Erweiterung des Infektionsschutzgesetzes verkauft. Viele, allzu viele lassen es sich auch als ein solches andrehen. Sie stört es nicht, dadurch im Handumdrehen oder per Handstreich entmachtet zu werden. Weil sie es gar nicht merken.
Leider steckt der heimliche Wunsch, autoritär regiert zu werden, tief drin im deutschen Untertan. Wenn alldem ein demokratisches Mäntelchen umgehängt wird, ist seine biedere Welt in Ordnung. In einem Essay der Zweimonatszeitschrift „CATO“ (2/2021), beschreibt Christian Guse („Gestörte Normalität“) diesen beängstigenden Zustand:
„Der Lockdown zeigt das triste Bild einer Gesellschaft, die nicht mehr viel auf sich hält; die nicht glaubt, sie hätte noch etwas weiterzugeben; die gleichsam nichts mehr zu verlieren hat, weil sie schon so viel aufgegeben oder zur Disposition gestellt hat. Welche Normalität des täglichen Lebens oberhalb der materiellen Grundversorgung ist sie eigentlich noch bereit zu verteidigen?“
Nun ist es nicht so, dass keiner versuchen würde, die Freiheitsrechte, die das Grundgesetz garantiert, verteidigen zu wollen. Seit Wochen und Monaten gehen Tausende dafür auf die Straße. Was aber passiert? Sie werden in den der Politik stets gefälligen Medien, die maßgeblich die öffentliche Meinung machen, diffamiert, diskriminiert, kriminalisiert. Sie werden von linken Hilfstruppen attackiert. Sie werden von der vom Staat vorgeschickten Polizei bedroht, eingekesselt, festgenommen. Das Ultima Ratio sind dann Pfefferspray, Schlagstöcke und Wasserwerfer.
Das alles hat kaum noch etwas mit der Bedrohung durch eine Pandemie zu tun. Es droht vielmehr eine zentralistische Machtergreifung. Denn an der sogenannten neuen Normalität ist nichts normal. Es geht um die persönlichen Rechte des Einzelnen. Doch was juckt das jene, die, um hier aus einem Text der Ostrock-Gruppe „Renft“ zu zitieren, „am Hintern zu schwer und im Kopfe zu bequem sind“. Und es geht um die föderale Selbstbestimmung im Bund. Werden die Landesregierungen künftig mehr sein, als nur Berliner Politstaffage?
Es fehlt wahrlich nicht an mahnenden Stimmen. Doch diese werden nicht gehört. Selbst nicht jene von Wissenschaftlern, die geradeaus denken, aber damit den Berliner Gruselkabinetten in die Quere kommen. Da passen z.B. Statements von Aerosolforschern zur fast gänzlich fehlenden Infektionsgefahr im Freien nicht zu den Plänen der Obrigkeit, die Menschen zuhause einzusperren. (Paradox, wo es doch dort die meisten Ansteckungen geben soll.) Aber diese Wissenschaftler meinen laut „FAZ“ (12.4.), „Debatten über das Flanieren auf Flusspromenaden, den Aufenthalt in Biergärten, das Joggen oder Radfahren seien … kontraproduktiv.“
Ebenso ist die mit Bedeutung aufgeladene Sieben-Tage-Inzidenz wahrlich nicht über allen Zweifel erhaben. Das beste Beispiel dafür lieferte übrigens jetzt die Bundesregierung selbst. Um vor der Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes die Bereitschaft zum Kompromiss zu simulieren, wurde aus dem Grenzwert 200 für Schulschließungen schnell mal 165 gemacht. Ohne zu erklären, wie man gerade zu dieser Zahl kam. Weil der Gesundheitsminister Jens Spahn am 16.5. Geburtstag hat?
Bei der Ausgangssperre ging man ähnlich vor: Aus 21 Uhr wurde gnädigerweise 22 Uhr. Warum? Wieso? Will man so die Diskussion darüber abwürgen, ob dieses drastische Vorgehen nicht eklatant gegen das Grundgesetz verstößt? Eine ernste Warnung ist angebracht: „Das Übertriebene, Maßlose ruft Reaktionen hervor, gegen die es seinerseits reagiert und noch maßloser, noch wütender wird.“ Das schrieb Golo Mann in seiner „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“.
Aus der Geschichte lernen? Fehlanzeige! Die Politiker heutzutage und hierzulande veranstalten viel lieber Gipfel auf Gipfel und glauben, auf der Höhe der Zeit zu sein und so über den Berg zu kommen. Der Corona-Aktivismus der Regierung ähnelt in vielen Phasen einem Schneeball-System: Es muss immer wieder etwas Neues nachgeschoben werden, denn sonst bricht alles zusammen.
Ein aktuelles Beispiel gefällig? Nun, das mit dem britischen Virus war dann wohl doch nicht ganz so schlimm. Deshalb muss nun diese Mutation aus Indien als Angstmacher herhalten. Und wahrscheinlich muss es im Überbietungswettbewerb negativer Prognosen einen Preis geben. Viele machen nämlich sofort wieder eifrig mit.
Doch es gibt noch Journalisten, die auch mal genauer hinschauen. Etwa Jörg Phil Friedrich von „WELT online“. Er wollte u.a. wissen, „Was von der dramatischen RKI-Prognose übrig blieb“. Demnach sagte das Robert-Koch-Institut vor rund einem Monat voraus, die Zahl der Neuinfektionen würde „dramatisch, exponentiell“ ansteigen und in der Woche nach Ostern die Sieben-Tage-Inzidenz etwa bei 300 und die Woche darauf bei 350 liegen. Nun ja, es wurde grob gesagt nur rund die Hälfte davon. Und korrigiert wurde nichts.
Über falsche Vorhersagen gehen bestbestallte Pandemie-Lautsprecher wie Lothar Wieler, der Tierarzt und RKI-Chef, Christian Drosten, Leibvirologe der Bundeskanzlerin, und Karl Lauterbach, das Corona-Orakel von der SPD, stillschweigend, selbstbezogen und überheblich hinweg. Das ist beschämend. Doch es ist kein Einzelfall.
„Wer ein schlechtes Gedächtnis hat, spart sich viele Gewissensbisse.“ (John James Osborn, 1929-1994). Es wird nicht wenige Mitmenschen geben, die sich später nicht daran erinnern wollen, was sie im Rückblick auf die Corona-Zeiten getan haben. Oder eben nicht getan.
Hans-Georg Prause