Nun wetzen sie also die Messer. „Ein Kompromiss ist die Kunst, einen Kuchen so zu teilen, dass jeder meint, er habe das größte Stück bekommen.“ Ludwig Erhard (1897-1977), zu Bonner Zeiten als „Vater des Wirtschaftswunders“ in Deutschland (West) verehrt, glaubte selbst eher nicht an Wunder, umso mehr aber an die Soziale Marktwirtschaft. Doch das ist Nostalgie. Derzeit wird in Berlin bei Koalitionsverhandlungen um die Anteile an einem „Kuchen“ namens Kanzleramt gestritten. Es geht vielleicht auch um politische Positionen, vor allem jedoch um lukrative Posten in einer künftigen Regierung.
Und an diesem Buffet wird bereits gedrängelt. So brachte sich Robert Habeck, der Co-Vorsitzende der Grünen, frühzeitig selbst als Vizekanzler ins Gespräch. Das kam nicht so gut an, vor allem nicht in seiner Partei, wo manche noch immer glauben, die Basis könne mitentscheiden. Doch dass man mit Annalena Baerbock an der Spitze in den Wahlkampf geht, wurde auch bereits im Hinterzimmer ausgekungelt. Erst danach hatte man diese Kandidatenkür durchwinken lassen. Die Beteiligung des Parteivolkes mutete an wie eine lästige Pflichtübung.
Nachdem die Frontfrau durch ihre politische Selbstverstümmelung den Grünen jedoch nicht zum erhofften Wahlergebnis verhalf und so deren narzisstisches Selbstverständnis gleich mit verletzte, wird die innerparteiliche Quote für Führungskräfte (m/w/d) ad acta gelegt. Ja, Habeck machte brav einen verbalen Rückzieher, als seine Ambitionen öffentlich wurden, doch ein Dementi war das nicht.
An den Maßstäben der Politik gemessen, kommt dieser eloquente Mann bei den Bürgern als seriös an. Eine etwas skurrile Bewerbung für die neue Bundesregierung gab dagegen Karl Lauterbach ab. Das passt irgendwie zu diesem Liebling der Medien aus den Reihen der SPD. In den trüben Fluten der Politik will er nicht länger nur mitschwimmen, sondern endlich Oberwasser bekommen. Nachdem seine Partei fast schon am Absaufen war.
Ja, er traue es sich zu, den CDU-Gesundheitsminister Spahn zu ersetzen. Es würde ihn jedenfalls nicht überfordern, so äußerte er sich in einem Interview mit „Focus Online“. Doch es gehe ihm nicht um Posten, versicherte er fast im gleichen Atemzuge. Um einige Tage darauf im „Tagesspiegel“ zu verkünden, Bildungs- und Forschungsminister wäre ebenfalls ein passender Job für ihn.
Dass sich Lauterbach auch das zutraut, wollen wir ihm gern glauben. Zuzutrauen ist ihm alles. Aber glauben sollten wir ihm kein Jota mehr! Dass er es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, gab er vor einiger Zeit vor den Kameras des „WDR“ unverfroren zu: „Die Wahrheit führt in sehr vielen Fällen zum politischen Tod.“ Um dabei gleich noch den TV-Moderator Dieter Könnes („Aber ich bitte Sie …“) als naiv hinzustellen.
Nun kann man es locker nehmen und den Komiker Heinz Erhardt (1909-1979) zitieren: „Manche Menschen wollen glänzen, obwohl sie keinen Schimmer haben.“ Oder man akzeptiert, dass die Deutschen nun die Regierung bekommen werden, die sie verdienen. Sie haben ja so gewählt.
Und wer jetzt sagt, er wäre deshalb gar nicht erst zur Abstimmung gegangen, ist trotzdem mitgefangen. Dieses System kann selbst mit 23,4 Prozent Nichtwählern gut leben. Wer nicht dagegen ist, der ist ungewollt dafür. Ein Kreuz zu machen heißt nicht, der Politik zu Kreuze zu kriechen.
Und diese gibt ein peinliches Bild ab. Erschreckend ist, wie gering z.B. die Verfallszeit von Äußerungen von Politikern geworden ist. Dass die Bundesjustizministerin Lambrecht am 22. August („WELT Online“) die G2-Regelung als „verfassungswidrig“ bezeichnete, schon am 27. August („Tagesschau“) aber keine Bedenken mehr hatte, ist kein Einzelfall. Oder der einst ehrenwerte Ex-Bundespräsident Gauck. Er nannte sogenannte Impfgegner laut „FAZ“ vom 11. September „Bekloppte“. Dabei hatte er doch „Toleranz für Querdenker und Impfgegner“ („ZDF“, 23. Mai) angemahnt.
Auch einige Politiketagen darunter sieht es nicht besser aus. Ein aktuelles Beispiel aus Sachsen:
Bekanntlich verfügt CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer über einen, auf wendigem Halse sitzenden, politisch denkenden Kopf. Deshalb zog er diesen erst mal ein, als bei der Bundestagswahl in Berlin für seine Partei nichts mehr zu gewinnen war. Um dann recht bald mit dem Finger auf seinen Unionsfreund Armin Laschet zu weisen. Allerdings zeigten dabei drei Finger auf ihn selbst. Besonders deutlich hatte die CDU u.a. in Sachsen verloren.
Archaische Riten in aufgeklärten Zeiten: Ein Opfer musste her! Mit Marco Wanderwitz wurde es gefunden. Selbst schuld, hatte dieser doch zuvor – als „Beauftragter“ der Regierung – die Ostdeutschen in Bausch und Bogen verdammt. Er habe sie damit „stigmatisiert“, klagte Kretschmer bereits am 8. September in einem „SZ“-Interview. Vielleicht ahnte er, dass ein Prügelknabe gebraucht werden würde.
Nach der Wahl wurde Wanderwitz prompt als CDU-Landesgruppenchef im Bundestag abgelöst. Sachsens Regierungschef selbst sprach aber von großer Demut, mit welcher der Ausgang der Bundestagswahl hingenommen werden sollte.
Doch nur drei (!) Tage nach dem Wahlsonntag war alles vergeben und vergessen. Plötzlich wurde Michael Kretschmer in einer Diskussionsrunde zu einem eifrigen Fürsprecher des Ostbeauftragten, den auch er gerade noch an den Pranger gestellt hatte. Dessen Bezeichnungen der Ostdeutschen als „diktatursozialisiert“ und „noch nicht in der Demokratie angekommen“ seien zutreffend. Ob Kretschmer dabei schamrot geworden ist? Wohl eher nicht.
Vielleicht gehört es zum „Geschäft“ von Politikern, wenig Skrupel zu haben, wenn’s in den Kram passt. Wobei sich der sächsische Ministerpräsident eventuell etwas zu sehr auf den späten Termin der nächsten Landtagswahl (Sommer 2024) und die Vergesslichkeit der Menschen verlässt.
Diese erinnern sich ja auch noch daran, dass 2017 ein gewisser Stanislaw Tillich so viel Ehrgefühl hatte, selbst nach einer nur knappen CDU-Niederlage im Freistaat gegen die AfD (mit nur 0,1 Prozent) die Verantwortung dafür zu übernehmen und zurückzutreten. Unter Michael Kretschmer wurden daraus mehr als sieben Prozent. Und es blieb sogar nur Platz drei, runde zwei Prozent noch hinter der SPD.
Unter diesem Aspekt lässt das Bonmot des US-amerikanischen Schriftstellers William Faulkner (1897-1962) auch den Umkehrschluss zu: „Intelligenz ist die Fähigkeit, seine Umwelt zu akzeptieren.“
Hans-Georg Prause