Vorschuss an Vertrauen ist verspielt

„Es ist besser zu weit zu gehen, als nicht weit genug.“ Dieser Ausspruch wird dem Genossen Stalin unseligen Angedenkens zugeschrieben. Vor diesem historischen Hintergrund muss er zynisch wirken....

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„Es ist besser zu weit zu gehen, als nicht weit genug.“ Dieser Ausspruch wird dem Genossen Stalin unseligen Angedenkens zugeschrieben. Vor diesem historischen Hintergrund muss er zynisch wirken. Doch diese Worte kommen einem in den Sinn, wenn man sich das Handeln der Bundesregierung in den vergangenen Wochen und Monaten der Corona-Pandemie vor Augen führt. Weil anfangs kaum jemand wusste, womit wir es hierbei zu tun haben, ist im Nachhinein den ersten erlassenen Restriktionen eine gewisse Berechtigung kaum abzusprechen. Inzwischen jedoch ist die Situation eine andere.

Vor allem ist sie fast überall anders. Was den regionalen Regierungen größere Räume eröffnen sollte. Doch bislang betreibt lediglich Reiner Haseloff (CDU) in Sachsen-Anhalt „das große Spiel der Kleinen“, wie es Hans-Jürgen Jakobs vom „Handelsblatt“ nennt: „Kurz vor der Tu-etwas-aber-nicht-zu-viel-Konferenz zwischen Angela Merkel und den 16 Ministerpräsidenten (gemeint ist die Schaltkonferenz von Bund und Ländern zu Lockerungen in der Corona-Krise am 6. Mai / hgp) prescht nur einer aus dem Kreis vor, …“ Haseloff plädiert für eine stärkere Lockerung der Corona-Regeln. Die Kontaktbeschränkungen wurden in seinem Bundesland bereits gelockert.

Das kritisieren die einen, andere bleiben in Deckung und denken: Hannemann, geh‘ du voran. Haseloffs beste Argumente sind die niedrigen Infektionszahlen – am 4. Mai waren es 1578 – und wenige Todesfälle (45). Warum also das öffentliche Leben weiterhin drastisch regulieren? Das mag z.B. in Bayern mit 42 997 Infektionen an diesem Stichtag notwendig sein. Der ganze Osten aber, selbst mit Berlin, hatte zu Wochenbeginn nicht einmal die Hälfte davon. Was also soll diese Gleichmacherei?

Es war doch absurd, dass die in der vorigen Woche veranlassten Rücknahmen einiger Corona-Einschränkungen als Lockerungen verkauft wurden. Staatlicherseits war man einfach zu übergriffig geworden. Beispielsweise sind Spielplätze nicht länger abgesperrt. Die Eltern entscheiden jetzt eigenverantwortlich, ob und wo sie ihre Kinder spielen lassen. Hatte man ihnen das bislang nicht zugetraut? 

Machen wir uns nichts vor: Mit dem Vertrauen zu den Corona-Maßnahmen der Regierung ist es nicht mehr weit her. Dabei hatte es einen großen Vertrauensvorschuss gegeben. Doch der wurde mit widersprüchlichen Aussagen und Aktionen verplempert. Ein aktuelles Beispiel: Merkel und Spahn nannten falsche Infektionszahlen bei einem Bund-Länder-Gipfel. Dieser Irrtum wurde wenigstens zugegeben. Es ging wohl nicht anders. Er war zu hanebüchen.

Vorher war es eher üblich, sich jener Zahlen zu bedienen, die am besten ins selbstgemalte Bild passten. Erinnern Sie sich? Da war laut der Bundeskanzlerin die Reproduktionsgröße die „alles entscheidende Zahl“ (FAZ 16. April) und musste unter 1 gedrückt werden. Das ist längst erreicht, stabil und … aus den Statements verschwunden. Zu Wochenbeginn lag sie bei 0,71. Der britische Wissenschaftler Ronald Coase (1910-2013) kannte sich aus: „Quäle Daten und sie werden alles zugeben.“

Auch ihre Experten hat das Kanzleramt in den Medien verheizt. Und sich zu oft auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verlassen. Es gibt einen Beleg jüngeren Datums: So hieß es bei der autoritären ARD-Tagesschau:  WHO warnt vor „Immunitätsnachweisen“. Nur ein paar Tage später musste der Virologe Christian Drosten an der Informationsfront mal wieder seinen Kopf hinhalten: Genesene Corona-Patienten immun. Dieser Beitrag beim Nachrichtensender ntv war mit einer lapidaren Dachzeile versehen: „WHO hat’s wohl anders gemeint“.

Vielleicht meint es aber die Bundesregierung anders und nutzt die Gunst der Stunde für eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes, für einen allgemeinen Impfzwang und für die Einführung eines Immunitätsnachweises. (Deshalb das nachgeschobene Drosten-Statement?). Viele Menschen sind paralysiert durch die Angst vor diesem Virus. Wenn dazu noch öffentliche Proteste der Bevölkerung auf ein Minimum reduziert und freie Medienkanäle stärker reglementiert werden können, lässt sich fast ungestört Politik betreiben.  

Ganz und gar nicht smart wird u.a. die Überwachung der Bevölkerung per Tracing-App forciert. „Apple hat die Bluetooth-Schnittstelle für Corona-Tracing-Apps klargemacht“, das meldete ntv bereits. Zwar sei die vom Robert-Koch-Institut in Auftrag gegebene Anwendung zur Nachverfolgung möglicher Infektionsketten noch nicht fertig, „die iPhones sind dafür nach dem Update aber bereit.“ Es sollte also besser jeder beim Handy das automatische Update ausschalten. Wer sein Bewegungsprofil lieber für sich behalten möchte, informiere sich unbedingt über iOS 13.5 .

Es ist ja einiges in Bewegung gekommen. Trotz und wegen der Corona-Verbote gehen bundesweit tausende Menschen auf die Straße. Dass in den Zeitungen und im Fernsehen vor allem über die Ausschreitungen von Linksautonomen am 1. Mai in Berlin berichtet wurde, muss kein Zufall sein. Es wird gern als Protestfolklore abgetan. Obwohl es selbst in der Hauptstadt hunderte Demonstranten gab, die nicht nur auf Krawall aus waren.

Dass bis zu 5000 Menschen sogar im „grünen“ Stuttgart auf den Cannstatter Wasen gegen die Regierungspolitik in Corona-Zeiten protestierten, war wohl mehr als nur ein Ereignis von regionaler Bedeutung, was gern als Grund für eine bewusste mediale Nichtberichterstattung herangezogen wird. Auch die in Schwerin von Ärzten (!) organisierte Mahnwache am Pfaffenteich mit dem Motto „Corona-Panik frisst Grundrechte“ hatte größere Aufmerksamkeit verdient. Statt der erlaubten 50 kamen bis zu 600 Teilnehmer. Ähnlich sah es in München und Hamburg, Leipzig und anderswo aus.

Wie in vielen kleineren Städten gingen auch in Bautzen die Menschen auf die Straße. Am Nachmittag des 1. Mai gab es eine kleinere Kundgebung (mit umso größerem Polizeiaufgebot) am Reichenturm. Tags darauf spazierten dann bis zu 200 Leute (laut lokaler SZ) gemeinsam vom Korn- zum Hauptmarkt. Mit dem Grundgesetz in der Hand – und das aus gutem Grund.

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