Also wenn Kultur wirklich „jeder zweite Herzschlag unseres Lebens“ ist, wie es einst der Schriftsteller Hans Marchwitza (1890-1965) in altkommunistischer Agitprop-Manier formulierte, dann leidet dieses Land, das sich so gern das der Dichter und Denker nennt, ganz akut an Herzrhythmus-Störungen. Die Zwangsschließung von Theatern und Konzerthäusern, von Museen und Galerien, von Szene-Hotspots und Clubs – das alles bringt das normale Leben aus dem Tritt. Und für die direkt davon Betroffenen wird dieser Corona-Lockdown zu einer Frage des Überlebens.
Auch der Intendant des Bautzener Theaters ist frustriert. Gerade erst hatte sich sein Haus nach den massiven Einschränkungen des Frühjahrs wieder berappelt und viel in diverse Hygienemaßnahmen investiert. Aber man sei „im Sinne der Gleichmacherei weggebürstet worden“, so eine der resignierenden Aussagen von Lutz Hillmann in einem Gespräch mit der lokalen „Sächsischen Zeitung“. Vielleicht interessiert es den Theatermann und seine künstlerischen und technischen Mitarbeiter, wie es dazu kam. Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat es „kühl und authentisch“ in Gabor Steingarts Morning Briefing-Podcast vom 2. November wie folgt (hier etwas verkürzt) erklärt:
Demnach gab es im Kabinett drei Maximen. Erstens: Die Schulen sollen offen bleiben, … Zweitens: Wir wollen die Fabriken laufen lassen, … Drittens: Der Einzelhandel soll nicht auch noch das Weihnachtsgeschäft verlieren. Und nun im Wortlaut: „Wenn man diese drei Dinge möchte, heißt das in der Conclusio: Alles andere muss dicht gemacht werden. Da hat man dann eben auch nicht mehr differenziert.“
„Nicht mehr differenziert“! Oder „weggebürstet“, wie Lutz Hillmann es nannte. Das ist wohl die Crux der Maßnahmen des neuen Lockdowns, mit denen man die Ausbreitung des Corona-Virus eindämmen möchte. Dafür wurde extra der blöde Begriff eines Pandemie-„Wellenbrechers“ erfunden. Doch nachweislich spielen Kultureinrichtungen – wie auch die erneut in Mitleidenschaft gezogene Gastronomie – bei der Verbreitung des Virus keine hervorragende Rolle. Gerade sie haben viel in puncto Hygiene getan. Selbst das Robert-Koch-Institut räumt ein, dass bei 75 Prozent der Infizierten unklar sei, wo sie sich angesteckt hätten. „Deswegen müsse man alles schließen, was entbehrlich sei“, war kürzlich zu lesen.
Kunst und Kultur, Jahresfeste und Veranstaltungen, die Gastronomie, der Freizeitsport – alles das ist also „entbehrlich“. Wen wundert’s, dass sich da Protest und Widerstand formieren. Die „Querdenker“ sind bereits bundesweit seit Monaten auf Straßen und Plätzen unterwegs. Mit der Aktion „Sang- und klanglos“ machen selbst namhafte Orchester auf die Misere aufmerksam, in der sie stecken. Nicht sang- und klanglos untergehen wollen ebenso die Initiativen und Verbände der Veranstaltungswirtschaft, ohne die auf Bühne und Backstage nichts läuft. Sie haben die #AlarmstufeRot ausgerufen.
Wer davon wenig gehört oder gesehen hat, sollte mal den Sender wechseln. Oder sich selbst im Internet umtun. Es gab zuletzt kaum ein Wochenende, an dem keine Kundgebungen oder Demonstrationen stattfanden. Und sei es das sonntägliche Treffen entlang der B 96 in der Oberlausitz. Denn es sind nicht immer große Events. Allerdings erleben wir dieser Tage, wie eine unliebsame Manifestation, zu der zehntausende Menschen kamen, erst durch ein Abschieben an den Stadtrand diskriminiert und im Nachhinein öffentlich diskreditiert werden soll.
Der Zulauf zur Kundgebung der Initiative „Querdenken“ am Samstag in Leipzig übertraf wohl selbst die Erwartungen der Organisatoren. Rund 45 000 kamen, wie der Berliner „Tagesspiegel“ (Ausgabe 8.11.) schrieb. Viele Redaktionen zogen sich ja unisono auf ein vages „über 20 000“ zurück. Nicht falsch, aber manipulativ. Dass deren Auseinandergehen nach dem Abbruch der Veranstaltung wegen der Nichteinhaltung von Hygiene-Auflagen nicht gänzlich reibungslos ablaufen würde, war kaum eine Überraschung. Ebenso wenig, dass es nach der Veranstaltung zu Provokationen kam.
Die Polizei vor Ort ersparte sich jedoch jede Kraftmeierei gegenüber den „querdenkenden“ Bürgern. Wofür sie tags darauf selbst verbale Prügel bezog. Es macht Angst, dass sächsische Politiker der Grünen und der SPD ein härteres Vorgehen gegen diese Demonstranten, unter ihnen viele Frauen und Kinder, durchaus begrüßt hätten. Obwohl im Wendejahr 1989 selbst der gewiss nicht zimperliche Stasi-Mielke angesichts solch friedlicher Menschenmassen („Keine Gewalt!“) vor dem Einsatz von Knüppeln und Wasserwerfern zurückgeschreckt war.
So zogen am Samstag rund dreißig Jahre später wieder Zehntausende um den Leipziger Innenstadt-Ring. Das waren genau die Bilder, die manche Leute gern verhindert hätten. Umso willkommener waren den beauftragten Fotografen und Kamerateams der Presse deshalb bemühte Szenen, wo es kurzzeitig zu Ausschreitungen kam. Provoziert von wem auch immer. In der Berichterstattung wurde dann versucht, der zivilen Kundgebung vom Nachmittag gleich noch die militanten Ausschreitungen der Abendstunden in Connewitz unterzujubeln.
Zu dieser zynischen Lesart der Medien würde es passen, dass an einem hinterhältigen Anschlag auf zwei Busse mit Querdenker-Teilnehmern in dem linken Szenestadtteil diese doch selbst schuld waren. Beim „Entglasen“ der Busse durch Steinwürfe und andere Wurfgeschosse wurden sogar Menschen verletzt. Der Sachschaden beträgt mehrere zehntausende Euro. Die Soko LinX ermittelt. Wenn es also „massive Ausschreitungen“ (so die „LVZ“) gegeben hat, dann dort. Große Schlagzeilen machte der brutale Überfall aber nicht. Überrascht?
Fast schon lustig ist, wenn es nicht so traurig wäre, dass diese politisch motivierte Medien-Kampagne selbst vor der Justiz, konkret dem Oberverwaltungsgericht, nicht haltmacht. Ausgerechnet die sich so seriös gebende „Sächsische Zeitung“ verbreitete am Dienstag mit dem Artikel „Nach Urteil: Spekulationen um Bautzener Richter“ auf der Sachsen-Seite diffuse Überlegungen, die einer Verschwörungstheorie verdammt ähneln: Das Gericht würde den „Querdenkern“ nahestehen.
Inzwischen wurde bekannt, dass der CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer für Demonstrationen in Sachsen eine Obergrenze von 1000 Teilnehmern beschließen lassen will. Es wird aufschlussreich sein, wie sich der Landtag dazu stellt. Denn dass Corona für so eine Anordnung nur ein Vorwand sein kann, ist offensichtlich. Von den großen Black Lives Matter-Demos im Sommer bis zu den folgenden Großkundgebungen etwa der „Querdenken“-Initiative: Es gibt keine Hinweise, dass selbst solche Menschenansammlungen stark zur Verbreitung des Corona-Virus beitragen. Um einen populären TV-Spruch aus Kindertagen (von Peter Lustig?) zu zitieren: „Klingt komisch, is‘ aber so!“
Umso weniger zum Lachen ist, was währenddessen hinter den Kulissen abläuft. Es findet sich in der Berichterstattung der Medien kaum wieder, dass vom Bundestag das Infektionsschutzgesetz geändert werden soll. Oder ergänzt, wie es beschönigend heißt. In einem neuen Paragraph sind 15 „Schutzmaßnahmen“ aufgeführt, „die die Regierungen zur Eindämmung der Pandemie ergreifen können – laut dem aktuellen Entwurf ohne Parlamentsbeteiligung.“ Merke: Ohne Parlamentsbeteiligung! Mehr dazu steht in dem WELT-Artikel „Das ist ein Freifahrschein für Grundrechtseingriffe“. Lesen Sie ihn bitte!
Wer jetzt meint, dass passiert doch alles nur ausnahmsweise, also wegen Corona und so, der denke über diesen Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) nach. Es ist ein leicht abgewandeltes Sprichwort: „Ausnahmen sind nicht immer Bestätigung der alten Regel. Es können auch Vorboten einer neuen Regel sein.“ Hoffentlich nicht die einer bereits eifrig kolportierten „neuen Normalität“.
Ihr Hans-Georg Prause