Ja hat der Wolf denn Kreide gefressen? Wieso ist Karl Lauterbach plötzlich geläutert? In einem Gespräch mit ntv online kann der SPD-Gesundheitspolitiker zwar nicht der Versuchung widerstehen, aus dem Bauch heraus seine Vorhersagen zu treffen, doch wer sich in den vergangenen Monaten nicht in den Corona-Kokon eingesponnen hat, wird hoffen, dass seine Prophezeiungen nicht mit dem Kassandra-Symptom behaftet sind, also nicht ernstgenommen werden: „Wir werden keinen Lockdown mehr machen“ , so Lauterbach gegenüber ntv.
Na das war doch mal eine Ansage! Zumal er wenige Tage zuvor beim Maybrit Illner-Talk noch ganz anders geredet hatte. Was WELT-Chefreporterin Anna Schneider resümieren ließ: „Die Lust an der Angst ist bei einigen Politikern ungebrochen“ . Das war in der ersten Juli-Hälfte, als die dann doch nicht so gefährliche Delta-Welle kräftig durch die Medien schwappte. Inzwischen ist in diesem Punkte fast schon wieder Ebbe, zumindest was die Bedrohung für Leib und Leben der mit dieser Corona-Variante Infizierten anbelangt. Und von der „Lambada-Version“ aus Südamerika, deren Ankunft in Europa gemeldet wurde, ist auch nichts mehr zu sehen oder zu hören. Nicht untypisch für eine Migration, die übers Meer kommt.
Dabei käme der Politik und der Presse so ein neues Menetekel gerade recht. Jetzt, da es Impfstoffe gibt, fehlt die Impfbereitschaft. Der erstere Mangel ließ sich nach und nach beheben; im anderen Fall arbeitet die Zeit eher gegen die Strategie, möglichst vielen Menschen einen dieser Impfstoffe zu verabreichen: einmal, zweimal, noch ein drittes Mal? Nicht zufällig heißt es „gesunde Skepsis“.
Nun, Karl Lauterbach scheint das zu akzeptieren. Obwohl die ntv-Interviewerin Nele Balgo mächtig insistiert, lässt sich der sonst um grenzwertige Sprüche nie verlegene „Mann für alle (Not-)Fälle“ nicht locken. „Die Durchsetzung einer Impfpflicht wäre kontraproduktiv“, und „Impfverweigerer“ werde man „nicht zwingen“. Gern hätte man erfahren, was er davon hält, aus Ungeimpften im Alltag Unberührbare zu machen, wie Scharfmacher fordern.
Diese Wandlung des Karl Lauterbach ist keine modifizierte Saulus-Paulus-Story. Eher ist sie die Ausnahme von der Regel. Vielleicht ist ihm dieser Spruch des antiken Sokrates in die Hände gekommen: „Der Kluge lernt aus allem und jedem, der Normale aus seinen Erfahrungen, und der Dumme weiß schon alles besser.“ Suchen Sie sich einfach etwas aus.
Nur eine Woche vor dem hier erwähnten Interview sprach Lauterbach noch abfällig von der „Durchseuchung“ von Schulkindern. Mit dieser Wortwahl wollte er die Möglichkeit diskreditieren, dass sich Kinder durch eine natürliche Infizierung selbst immunisieren. Nicht untypisch für den Journalismus dieser Tage ist, dass er es so in die Schlagzeile schaffte.
Was früher Verkaufszahlen waren, sind heute die Online-Klicks. Dafür braucht es Leute wie Lauterbach. Nur Sparringspartner ist (im konkreten FAZ-Beitrag) dann eine medizinische Kapazität wie der Direktor der Abteilung für Kinderkardiologie und Intensivmedizin am Uni-Klinikum München und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie, Professor Nikolaus Haas.
Aber kann es sein, dass Karl Lauterbach plötzlich nicht mehr gefragt ist, nicht mehr befragt wird? Zum aktuellen Thema, wie wichtig die Inzidenz-Zahlen für die Einschätzung der Corona-Pandemie sind, musste er kürzlich selbst in seinem Account twittern! „Richtig ist, dass Inzidenz in Coronapolitik nicht mehr dominierender Faktor sein darf. Aber Coronapolitik, in der Inzidenz keine Rolle mehr spielt, nur Krankenhauseinweisungen, wäre falsch.“
Damit liegt er auf Linie. „Zur Einschätzung der Corona-Lage will die Bundesregierung neben der Sieben-Tage-Inzidenz künftig auch weitere Parameter wie die Zahl der Krankenhauseinweisungen stärker in den Blick nehmen.“ So stand es am 12. Juli in der „Süddeutschen Zeitung“ und anderswo.
Man könnte das als Rückkehr zur Normalität sehen. Noch vor wenigen Monaten wäre es eine Querdenker-Position gewesen. Wie auch „Forscher und Ärzte sehen einen Übergang zur Grippe“, das stand am 12. Juli auf Seite 2 der „Sächsischen Zeitung“. Aber es bleibt ein Unbehagen. Vielleicht wird nach neuen, kaum zu überprüfenden Parametern gesucht, um staatlicherseits die noch bestehenden Notverordnungen zu rechtfertigen.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) macht schon wieder auf Alarmismus, oder aber die „FAZ“, wenn sie schreibt: „Fast 70 Prozent mehr Corona-Neuinfektionen als vor einer Woche“. Stimmt. Doch es geht lediglich um eine Inzidenz von 10,3 am Montagmorgen. Also rund 10 Infizierte von 100 000 Menschen. Wer nicht darüber nachdenken will, stelle sich das bildlich vor. Und wie viele, besser: wie wenige von ihnen müssen in ein Krankenhaus?
Übrigens hatte Mitte Mai diesen Jahres eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe um den Gesundheitsökonomen Matthias Schrappe die These aufgestellt, dass die Angst vor einem Notstand auf den deutschen Intensivstationen in der Pandemie unbegründet war: „Betrug bei der Anzahl der Intensivbetten“ . Für diese Enthüllungen gab es öffentliche Schelte. „Inzwischen hat der Bundesrechnungshof ihn (also Schrappe) bestätigt“ (WELT online 29. Juni).
Außerdem wurden in Deutschland womöglich mehr Covid-Patienten intensivmedizinisch und damit teurer behandelt als notwendig: „Hoher Anteil an Beatmung nicht allein mit medizinischer Notwendigkeit zu erklären“ . Diese Anhaltspunkte haben sich (WELT online / 27. Juni) aus Zahlen der DAK, einer der größten deutschen Krankenkassen, ergeben.
Jede dritte Klinik in Deutschland soll für die medizinische Versorgung überflüssig sein. Das sagt Josef Hecken. Er ist der Vorsitzende des Bundesausschusses von Krankenkassen, Ärzten und Kliniken und plädiert für weitreichende Reformen. „Wir haben zurzeit 1900 Krankenhäuser, 1200 wären genug.“ Dabei wurde doch jeder Lockdown während der Corona-Pandemie u.a. damit begründet, eine Überforderung des Gesundheitswesens zu verhindern.
Alles Lug und Trug? Es ist wirklich höchste Zeit, die Masken abzulegen. Und das im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne. Ein Politiker-Wort zum Schluss. Nein, nicht von Karl Lauterbach (SPD), sondern Rainer Barzel (CDU / 1924-2006): „Wer nicht handelt, wird behandelt.“
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